11 April, 2009

Michel Foucault: Die Wut über die Tatsachen

"Was hat sich in unseren Köpfen abgespielt, in den letzten fünfzehn Jahren? In einem ersten Anlauf würde ich sagen: ein wütender Schmerz, eine ungeduldige, aufgebrachte Sensibilität für das, was sich abspielt, eine Intoleranz gegen die theoretische Rechtfertigung und die ganze schleichende Beruhigungsarbeit, die der „wahre" Diskurs Tag für Tag leistet. Vor dem Hintergrund des bläßlichen Dekors, den die Philosophie, die Poltische Ökonomie und soviel andere schöne Wissenschaften aufgebaut hatten, haben sich plötzlich Irre erhoben und Kranke, Frauen und Kinder, Gefangene, Gemarterte und Tote zu Millionen. Gott weiß wohl, dass wir mit Theoremen, Prinzipien und Wörtern gewappnet waren, um all das zu zerbröseln. Welcher Appetit auf einmal, diese so nahen Fremden zu sehen und zu hören? Welche Besorgnis um so unfeine Dinge? Wir sind von der Wut über die Tatsachen gepackt worden. Wir haben aufgehört, die zu ertragen, die uns sagten – oder vielmehr das Getuschel in uns, das sagte: 'Macht nichts, eine Tatsache für sich allein wird nie etwas sein; höre, lies, warte; das wird sich ferner, später, höher erklären'."
[Michel Foucault: Dispositive der Macht, S. 217]

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