14 August, 2008

die sicherheitsdispositive

Insgesamt unterscheidet Foucault drei verschiedene Machttechnologien: die juridischen oder rechtlichen Mechanismen, die Disziplinarmechanismen und die Sicherheitsmechanismen. Diese ordnet er drei entsprechenden Staatsformen und deren Organisationsprinzipien zu: erstens, die juridischen Mechanismen dem mittelalterlichen Gerechtigkeitsstaat, der nach dem Prinzip der Souveränität organisiert ist; zweitens, die Disziplinarmechanismen dem Verwaltungsstaat des 16. und 17. Jahrhunderts, der nach dem Prinzip der Staatsräson und der Polizei organisiert ist und drittens, die Sicherheitsmechanismen dem Regierungsstaat, der sich ab dem 18. Jahrhundert entwickelt und der nach dem Prinzip der Gouvernementalität organisiert ist.
Die unterschiedliche Funktionsweise dieser Machtmechanismen verdeutlicht Foucault an Hand der verschiedenen Reaktionen auf und Behandlungen von Krankheiten im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert. Während die Leprakranken im Mittelalter mit Hilfe von Gesetzen und Verordnungen ausgeschlossen wurden, wurden im 16. und 17. Jahrhundert von der Pest betroffene Regionen mittels Kontrolle und Überwachung diszipliniert, um eine Ausdehnung auf andere Gebiete zu unterbinden. Die Sicherheitsmechanismen operieren dagegen vor allem mittels Wahrscheinlichkeiten auf der Grundlage von Statistiken. Bei der Behandlung der Pocken im 18. Jahrhundert ging es in erster Linie darum, statistisches Wissen über die Bevölkerung zu sammeln und mit Hilfe der Impfpraktiken die Epidemie einzudämmen.[1] Die rechtlichen Mechanismen oder die Souveränität funktionieren folglich über Gesetze und Verbote, die Disziplin über Kontrolle und Überwachung und die Sicherheitsdispositive über die Regulierung von Wahrscheinlichkeiten:

„Anders gesagt, das Gesetz verbietet, die Disziplin schreibt vor, und die Sicherheit hat - ohne zu untersagen und ohne vorzuschreiben, wobei sie sich eventuell einiger Instrumente in Richtung Verbot und Vorschrift bedient - die wesentliche Funktion, auf eine Realität zu antworten, so daß diese Antwort jene Realität aufhebt, auf die sie antwortet - sie aufhebt oder einschränkt oder bremst oder regelt.“[2]

Obwohl Foucault den einzelnen Machtmechanismen ihre jeweiligen Gegenstände – den juridischen Mechanismen das Territorium, den disziplinarischen Mechanismen die individuellen Körper und den Sicherheitsmechanismen die Gesamtheit der Bevölkerung – zuordnet und sie in eine zeitliche Abfolge zueinander bringt, betont er gleichzeitig, dass eine strikte Trennung und zeitliche Zuordnung dieser Mechanismen zu schematisch und folglich auch zu ungenau ist. Stattdessen handelt es sich bei den verschiedenen Machtmechanismen um „eine Serie komplexer Gefüge“[3], bei der sich mit der Zeit vor allem „[...] die Dominante oder genauer das Korrelationssystem zwischen den juridisch-rechtlichen Mechanismen, den Disziplinarmechanismen und den Sicherheitsmechanismen“[4] verändert. Die juridischen und disziplinarischen Mechanismen werden von den Sicherheitsmechanismen folglich nicht verdrängt. Im Gegenteil, im Zuge der Sicherheitsdispositive kommt es zu einer regelrechten Zunahme rechtlicher Regulierungen und disziplinarischer Maßnahmen.
Auf Grundlage der Unterscheidung der verschiedenen Machttypen wendet Foucault sich der Frage zu, ob es „[…] tatsächlich eine Gesamtökonomie der Macht gibt, welche die Form der Sicherheitstechnologie hat […]“[5] und inwiefern diese Gesamtökonomie der Macht „[…] in unseren Gesellschaften dabei ist, zur Sicherheitsordnung zu werden?“[6] Dieses Vorhaben verfolgt er an Hand der Sicherheitsräume, der Behandlung des Ereignisses und der spezifischen Normalisierungsformen der Sicherheit.
Bei den Sicherheitsräumen zeigt er die unterschiedlichen Vorgehensweisen und Strategien der Machtmechanismen bei der Gestaltung des städtischen Raumes an Hand des Werkes La métropolitée von Alexandre Le Maître sowie der Städte Richelieu und Nantes. Während sich die Souveränität vor allem mit dem Verhältnis zwischen Regierungssitz und Territorium befasst und die Disziplin einen leeren Raum funktionell und hierarchisch neu gestaltet, geht es der Sicherheit darum, mit Hilfe von Wahrscheinlichkeiten die Bevölkerung in einem gegebenen Raum zu regulieren und ein Milieu zu gestalten.[7]
Bei der Behandlung des Ereignisses stellt er dar, wie Mitte des 18. Jahrhunderts das juridische und disziplinarische System, das den Nahrungsmangel mit Hilfe von Verboten und Überwachung verhindern soll, vom Prinzip des freien Kornumlaufs abgelöst wird, bei dem die Schwankungen zwischen Überfluss und Knappheit nicht mehr verhindert, sondern als gegebene Wirklichkeit in die Planung mit einbezogen werden sollen.
Die Normalisierungsformen der Sicherheit schließlich unterscheiden sich deutlich von denen der Souveränität und der Disziplin. Während es die Funktion des Gesetzes ist, eine Norm zu kodifizieren, setzt die Disziplin eine Norm, an der sie die Individuen ausrichtet. Das Normale der Disziplin ist das, was sich an dieser Norm ausrichten lässt, das Anormale das, bei dem diese Ausrichtung an der Norm nicht funktioniert. Die Sicherheit dagegen nimmt keine Norm, sondern das Normale im Sinne eines Mittelwerts zum Ausgangspunkt. Nicht die Norm bestimmt das Normale, sondern das Normale die Norm.
Zielobjekt und -subjekt der Regulierungsmaßnahmen der Sicherheitsdispositive ist die Bevölkerung, die sich im Zuge dieser Maßnahmen als eigenständige Realität konstituiert.

„Die Bevölkerung als politisches Subjekt, als neues, dem juridischen und politischen Denken der vorangegangenen Jahrhunderte absolut fremdes, kollektives Subjekt [...] ist hier im Begriff, in ihrer Komplexität, mit ihren Zäsuren zutage zu treten. Sie sehen bereits, daß sie ebenso als Objekt zutage tritt, das heißt als das, auf das, gegen das man die Mechanismen lenkt, um eine bestimmte Wirkung auf sie zu erzielen (wie als) Subjekt, da sie es ja ist, von der man verlangt, sich in dieser oder jener Art zu verhalten.“[8]

Die Sicherheitsmechanismen verstehen die Bevölkerung nicht mehr im juridisch-politischen Sinne, sondern als technisch-politisches Objekt. Die Bevölkerung ist nicht mehr eine Menge von Untertanen oder Rechtssubjekten, sondern eine Gesamtheit von Elementen, die analysiert, verwaltet und reguliert werden müssen.[9]
Gleichzeitig werden die Sicherheitsmechanismen nicht mehr von einem Souverän gesteuert, sondern von einer Regierung, was eine neue Form der Regierungskunst erforderlich werden lässt. Am Beispiel von Machiavellis Werk Der Fürst[10] und der Anti-Machiavelli-Literatur stellt Foucault die „Kunst, Fürst zu sein“, der „Kunst des Regierens“ gegenüber.[11] Während bei Machiavelli das Verhältnis des Fürsten zu seinem Fürstentum durch „Singularität, Äußerlichkeit und Transzendenz“[12] bestimmt ist, ist die Kunst des Regierens durch die „[...] Pluralität der Regierungsformen und Immanenz der Regierung im Verhältnis zum Staat [...]“[13] gekennzeichnet. Im 16. Jahrhundert entwickelt die Regierungskunst eine aufsteigende Kontinuität der verschiedenen Regierungsformen: nur wer sich selbst zu führen weiß, wer die Familie und die wirtschaftlichen Angelegenheiten des Haushalts im Sinne des oikos zu führen weiß, kann überhaupt in der Lage sein, den Staat zu regieren.[14] Die Regierungskunst besteht darin, die Macht im Sinne der Ökonomie auszuüben:

„Einen Staat zu regieren wird also heißen, die Ökonomie anzuwenden, eine Ökonomie auf der Ebene des Staates als Ganzem, das heißt, man wird, was die Einwohner, die Reichtümer, das Verhalten aller und jedes einzelnen betrifft, eine Form von berwachung und Kontrolle ausüben, die nicht weniger aufmerksam ist als die des Familienvaters über die Hausgemeinschaft und ihre Güter.“[15]

Der zentrale Unterschied zwischen der Souveränität und der Regierung liegt jedoch in ihrer unterschiedlichen Zielsetzung. Der Souverän herrscht in erster Linie über ein Territorium und nur vermittelt über die auf diesem Territorium lebenden Untertanen, mit dem selbstbezogenen Ziel, die Souveränität zu erhalten. Die Regierung dagegen bezieht sich nicht in erster Linie auf ein Territorium, sondern auf die Menschen und Dinge, die sie regiert.
Bis zum 18. Jahrhundert kann sich diese Regierungskunst jedoch nicht durchsetzen, da sie von der einseitigen Orientierung auf die Souveränität blockiert ist. Erst durch die demographische Expansion und die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion im 18. Jahrhundert werden die Voraussetzungen geschaffen, diese Blockade aufzuheben. Mit Hilfe der Statistik werden demographische Informationen wie beispielsweise Geburt- und Sterberaten, Epidemieverläufe und ökonomisch relevante Verhaltensregelmäßigkeiten gesammelt, die sich nicht mehr auf das Modell der Familie beziehen, sondern die Bevölkerung als eigene Wirklichkeit mit entsprechenden Phänomenen in den Blick nehmen. Mit dem Auftauchen der Bevölkerung als Bezugspunkt der Regierungstätigkeit wird die Familie vom Modell zum Instrument der Machtausübung über die Bevölkerung[16], die Ökonomie wird zur politischen Ökonomie:

„[...] der Übergang von einem Regime, das durch die Strukturen der Souveränität beherrscht ist, zu einem Regime, das durch die Techniken des Regierens beherrscht ist, tritt im 18. Jahrhundert im Kontext der Bevölkerung ein und folglich im Kontext der Geburt der politischen Ökonomie.“[17]

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[zara pfeiffer]

[1] Vgl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 24f.
[2]
Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 76.
[3]
Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 22.
[4]
Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 23.
[5]
Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 26.
[6]
Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 26.
[7]
Vgl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 29ff.
[8]
Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 70.
[9]
Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 108ff.
[10]
Machiavelli, Niccolò: Der Fürst, Stuttgart: Kröner, 1955.
[11]
Vgl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 140.
[12]
Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 139.
[13]
Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 142.
[14]
Vgl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 143.
[15]
Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 144.
[16]
Vgl. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 2006, S. 156ff.
[17] Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevökerung, 2006, S. 159.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

ein sehr interessanter aspekt diese sicherheitsdispositive. allerdings bleibt es für mich fraglich, oder vielmehr verwunderlich warum er nicht näher auf diese eingegangen ist. ich habe meine diplomarbeit über den demographischen wandel als sicherheitsdispositiv in zeiten neoliberaler regierungsformen geschrieben. leider gibt es in meinem umfeld niemanden mit dem ich über foucault reden kann. vielleicht ergibt sich ja die möglichkeit mit dir über foucault via mail zu reden?? ich würde das thema gerne vertiefen und mich langfristig mit dem diskurs der romantik als subjektivierungsmechnismus auseinandersetzen wollen. leider finde ich auf der seite keine kontaktmail, weshalb ich jetzt diesen weg wähle. bin sehr begeistert von deinem blog!!! den kommentar solltest du lieber nicht veröffentlichen lassen, bzw. löschen. würde mich über eine antwort freuen. was interessiert dich an foucault? welche phase seines denkens hat dich bewegt und entscheidend beeinflusst?

syrral@web.de